Tinder ist tot!

Vielleicht ist das auch gut so.

Ich saß an einem frühen Abend in meiner Stammkneipe an der Bar und schlürfte gemütlich an einem Bier als ich das erste mal von der App hörte. Drei ungefähr 20 Jahre jüngere Gesellen, die als einzige mit an der Bar saßen, zwei davon weiblich, lachten mich kollektiv aus als ich sagte, dass ich diese App wirklich nicht kennen würde und noch nie von ihr gehört hatte. Sie glaubten mir nicht. Neue Freunde hätten sie da gefunden, erzählte eine von ihnen euphorisch, zum Feiern gehen und so, echt eine coole Sache wäre das.

Ich wurde neugierig. War ich doch gerade von einer Eurasien-Reise zurück gekehrt, als frischer Single nach einer 4-Jährigen Beziehung, kam mir das gerade sehr gelegen. In den Hostels und beim Couchsurfing hatte ich in den letzten drei Monaten jeden Tag neue Menschen kennen gelernt – warum also nicht zu Hause damit weiter machen? Ich installierte mir die freundliche App mit dem feurig roten Logo, vermutlich noch am selben Abend. Ziemlich schnell und ziemlich naiv startete ich mein erstes Date mit dem festen Glauben daran, ich könnte mit meinem weiblichen Gegenüber befreundet sein. Zur Paarung oder gar für eine handfeste Beziehung schien mir die Dame nicht die richtige zu sein – so zumindest mein erster Eindruck nach dem ersten persönlichen Beschnuppern. Mit Gitarre und Pizza saßen wir am Flussufer an einem warmen Sommernachmittag und verbrachten auch nach der Pizza einen wirklich lockeren und lustigen Abend – ich ahnte nicht was folgen würde – am Tag darauf eine ziemlich verbitterte Textnachricht, die mich als frauenverachtenden Macho zu diskreditieren versuchte, weil ich am Vorabend von Dicktittigen gesprochen hatte. Mir wurden zwei Dinge klar: Erstens, diese Frau hat keinen Sinn für Humor – zumindest nicht für meinen, und Zweitens: es geht hier nicht um Freunde finden, sondern um Partner-Suche und Tinder ist kein Spass – es ist purer Ernst – zumindest für diese Anwenderin.

Mein letztes Tinder-Date liegt über 5 Monate zurück – und das trotz meiner jüngst erworbenen, zweiten Tinder-Gold-Mitgliedschaft während meiner Nutzungsperiode. Natürlich, es stellte sich unausweichlich die Corona-Pandemie zwischen mich und ein Treffen mit einem Match, aber es war doch auch davor schon nicht mehr das was es einmal war, oder?

Ich möchte mich nicht beschweren, die Bilanz der dreieinhalb Jahre ist in Ordnung. Sogar eine handfeste Beziehung mit einer Narzisstin war mit dabei – kann man sich da beschweren? Klar, kann man, bringt aber auch nichts und schließlich ist man ja auch selbst daran schuld – und es gab ja auch Schönes daran – sonst würde man es ja nicht machen, oder? Mit der Zeit jedoch wurde es immer schwerer überhaupt jemanden persönlich kennen zu lernen. Zunächst fragte ich mich: vielleicht brauche ich wieder das alte Profilbild? Vielleicht war mein Profiltext vorher besser? Vielleicht bin ich zu wählerisch geworden? Vielleicht haben die Weibchen am anderen Ende der Verbindung damals gespürt, dass ich tatsächlich noch ein unverdorbener Frischling auf dem Dating-Markt war und fanden das attraktiv? Sicher ist das alles nicht so ganz irrelevant, aber davon abgesehen hat sich doch etwas ganz wesentliches, viel gravierenderes geändert. Es ist einfach schwerer geworden auf Tinder. Für beide Geschlechter. Es gibt mehr Männer. Es gibt viel mehr Männer als Frauen – nicht auf der Welt – aber in der Tinderwelt. 76,9% sagt eine Statistik. Ja, das war auch vor drei Jahren schon so. Ich bin davon überzeugt, dass es noch mehr mehr Männer gibt, wahrscheinlich 90%. Vor allem gibt es aber einen immer größer werdenden Anteil jener, Männer, die ihre Dickpics durch das Internet feuern wie der Wind durch ein Fliegengitter bläst. Das führt dazu, dass immer mehr potentiell interessante Frauen von diesen niveaulosen Wesen so entnervt sind, dass sie Tinder ein weiteres mal deinstallieren – zumindest bis zur nächsten unerträglichen Phase der Einsamkeit.

Eines meiner Tinder-Matches, Katrin, 37, hat Tinder deinstalliert. Schon vor Monaten – kurz nach unserem Match. „Hast Du Tinder eigentlich wieder installiert“ frage ich. „Nein! Ich kriege Aggressionen wenn ich an Tinder denke“ antwortet sie.

Eine andere Tinder-Katrin, 35, hat Tinder wieder installiert.

Ohne geht es irgendwie auch nicht auf Dauer. Einsam sein ist doof. Menschen für Zweisamkeiten im Alltag kennen zu lernen wird immer schwieriger. Die Bilderbuch-Auswahl bei Tinder ist eine solide Alternative zum Garniemandkennenlernen. Pornhub und Beeg sind auf Dauer eben nur bedingt befriedigend und es bleibt schließlich der NORD, und wenn schon niemand da ist, der einem die Wäsche aufhängt, das Regal montiert oder einen Pickel am Rücken ausdrückt, ist ab und zu wenigstens mal Sex für den Hormonhaushalt schließlich einfach gesund – und gesund leben will doch die Nachnachkriegsgeneration auf jeden Fall, und die danach sowieso!

Sogar ich hatte Tinder schon mal deinstalliert – nicht wegen zu vielen Dickpics – sondern zu Zeiten der offiziellen Beziehung mit der Narzisstin – so ganz freiwillig und mit dem ernsthaften Glauben an das unmögliche – eine funktionierende Beziehung. Nach der Trennung musste ich nicht mal neue Bilder hochladen – alles war noch da. Mein altes Single-Leben war mit zwei „Klicks“ zurück – nur in mir drin hatte sich im Vergleich zu meinem Tinder-Profil etwas verändert.

Jedenfalls – während ich zu Beginn zahlreichere Matches hatte, und mir dabei jedes Match zumindest irgend eine Nachricht zurück schrieb, bevor sich die Konversation dann eventuell recht schnell im Sande verlaufen konnte oder das Match von einem der beiden Beteiligten aufgelöst wurde, so ist es mittlerweile schon fast eine Ausnahme geworden, wenn es mal anders läuft.

Ja, früher war wirklich alles besser, auch oder wenigstens Tinder. Früher, vor Drei Jahren, am Anfang meiner Tinder-Karriere, da gab es ausschweifende Dialoge die in vielen Fällen letztendlich zu einem offenbarenden persönlichen Treffen führten. Mittlerweile muss man so viel Zeit und Energie für überhaupt irgend ein Ergebnis investieren, dass man immer mehr die Lust daran verliert. Die Übersättigung beider teilnehmenden Geschlechter macht uns wählerischer, wir stumpfen ab und sind gelangweilt von immer wiederkehrenden Fragen&Antworten. Was am Anfang noch spannend war wird zur langweiligen Routine. Nach der hundertsten kreativen, charmanten Erstkontaktnachricht, die im Zweifelsfall einfach unbeantwortet bleibt, verliert man nachhaltig Motivation. Vielleicht funktionieren Dickpics besser? Vielleicht sollte ich auch mal eins herumschicken. Müsste ja nicht mal von mir sein. Vielleich kämen sogar schöne Vaginavideos oder wenigstens Fotzenfotos zurück?

Aber nicht nur das Matchen, auch das Daten wird zur Routine. Eine Frau berichtete mir von über 100 Dates innerhalb eines Jahres. Ich erinnere mich nicht mehr genau, aber eigentlich kann diese Frau, vorausgesetzt sie geht Vollzeit arbeiten, ja sonst kaum noch andere Hobbys haben, oder? Und wie fühlt sich das hundertste Date in 365 Tagen an? Gibt es noch Restaurants in der Stadt, die man noch nicht zum ersten Date besucht hat – wenn diese denn dann irgendwann mal wieder geöffnet haben? Oder spart man sich das als erfahrener Dater gleich aus und trifft sich an einer beliebigen Straßenecke um über Sex, Nichtsex, irgendetwas dazwischen oder gar nichts, und somit über den weiteren Verlauf der Begegnung zu entscheiden, bevor man im Zweifelsfall wertvolle Lebenszeit mit dem Getroffenen verschwendet? Vielleicht möchte ich diesen Zustand nie erreichen. Vielleicht soll eine Magie überleben.

Jede Plattform hat seine Zeit. Vor den Zeiten von Tinder, Lovoo und Badoo gab es Instagram und Facebook. Und davor gab es Wer-Kennt-Wen – und wer kennt heute Wer-Kennt-Wen noch? Und davor gab es SchülerVZ, StudiVZ, davor myspace. Und davor? Davor gab es IRC-Chats und ICQ. Und davor, ja, davor gab es das Telefon! Und davor – davor mussten Menschen sich treffen oder Briefe schreiben wenn sie kommunizieren wollten – das nennt man heute Real Life. Der große Unterschied zwischen dem Real Life und den technischen Kommunikationswegen ist, Ersteres wird nie aussterben solange Menschen sich fortpflanzen wollen, während sich Kommunikationswege stetig weiter verändern und Dienste mit einst Millionen Anwendern von heute auf morgen niemand mehr kennt. Cybersex vor dem ersten persönlichen Kaffetrinken wird vielleicht schon übermorgen Normalität sein – besser erst mal antesten wie sich der potentielle Partner digital anfühlt bevor man ihn im Real Life trifft – ist doch völlig einleuchtend, oder?

Tinder jedenfalls ist tot. Tinder jedenfalls hat seinen Zenit überschritten und nicht nur das einst boomende Lovoo ist nun mehr sehr bemüht seine User mit immer neuen Funktionen und Angeboten bei Laune zu halten. Während der Corona-Lockdown Facebook und Instagram eine kurze Atempause von fallenden Userzahlen beschert hat, so mag bei Tinder auch ohne und nach dem globalen Hausarrest noch ein Wachstum erkennbar sein, nach Angaben eines Analysten im Jahr 2020 um 25% – aber den dadurch zunehmenden Qualitätsverlust wird man auch mit neuen Features, die den einstigen Flair, als ein Match noch ein Match war, weiter zerstören, als dass sie eine Bereicherung sind, nicht wett machen können. Da hilft auch keine größere Zahl bezahlter Fake-User, die die Männer bei der Stange halten, denn auch wer das System nicht hinterfragt und durchschaut, wird früher oder später einfach enttäuscht sein, weil das, um was es letztendlich geht, ein persönliches Kennenlernen, immer unwahrscheinlicher und seltener wird.

Meine Support-Anfrage, warum ich exakt seit meiner Gold-Mitgliedschaft ständig extrem hübsche Frauen, die aber über 1.000km entfernt sind, angezeigt bekomme, obwohl mein Suchradius auf 30km eingestellt ist, bleibt bis heute unbeantwortet. Nicht nur dass mir die Models angezeigt werden, sie liken mich auch, und sie schreiben sogar! Zwar nicht viel, und meistens auch nicht in meiner Sprache, aber sie schreiben! Dem Letzten habe ich geschrieben, dass ich nicht verstehe, warum es mir einen Like gibt mit einer Entfernung von über 1.000km und ob es nach Deutschland migrieren möchte. Das Match wurde kommentarlos aufgelöst.

Tinder stinkt bis zum Himmel nach Gewinnmaximierung und dem Versuch, noch mehr Männer zur Bezahl-App zu bewegen und vor allem aber, sie daran zu binden, bevor der unaufhaltsam fortschreitende und unmittelbar bevorstehende Tod endgültig eintritt – vermutlich sogar recht erfolgreich weil viele Benutzer keine Ahnung haben, was hinter den Kulissen so einer Unternehmung passiert. Ein Kommilitone arbeitete während unseres Studiums bei einem Dating-Portal. Ich bin entsprechend sensibilisiert. Sensibilisiert dafür, wie und in welchem Ausmaß bezahltes Personal mit vereinsamten, hässlichen Männern Nachrichten austauscht, wie Statistiken und Angaben gefälscht werden um genau eines zu erreichen, wie immer und überall in unserem System: Geld – und weil das nicht genügt, noch mehr Geld!

Gut. Tinder stirbt. Und jetzt? Werde ich – wie ich es ohnehin vorhergesagt habe – als einsamer Single in die Jagdgründe eingehen? Was kommt danach? Wie wäre es z. B. mit einer App, bei der man nur Sprachnachrichten senden kann und keine Fotos sieht? Wir könnten sie Vocado taufen, eine Mischung aus Voodoo und Vocal – oder vielleicht verzichten wir auf Snapchat-Filter und ersetzen sämtliche realen Bezüge durch virtuelle Abbilder unser Selbst – macht doch eh kaum noch einen Unterschied, und wer möchte schließlich nicht lieber aussehen wie Megan Fox oder Robert Pattinson?

Vielleicht gibt es ja aber auch einfach einen Trend hin zu Back to Real Life, oder bin ich ein hoffnungsloser Träumer? Vielleicht gehe ich sogar wieder mal in die Stammkneipe, in der man mir vor langer Zeit Hausverbot erteilte, nach dem ich Tinder installiert hatte, gebe mir einen Ruck und spreche eine Frau so im echten leben an – auch wenn das vielleicht etwas altmodisch ist. Immerhin hatte ich da schon mal eine gesunde Frau gefunden, mit der ich es 3 Jahre ausgehalten habe. Vielleicht hilft nicht nur mir die physikalische Begegnung bei der natürlichen Auslese und bewahrt uns vor weiteren Narzisstinnen und Narzissten, krankhaft übertriebenen Emanzen und Machos und Menschen, die wir im realen Leben ohne Tinder so nie kennen gelernt hätten? Mit Sicherheit hat sich mein Horizont durch die Erfahrungen der letzten 3 Tinder-Jahre extremst geweitet, und dafür bin ich im Grunde erstmal tatsächlich eines: dankbar! Aber nicht jede Erfahrung war gut, nicht jede Erfahrung war notwendig, und nicht jede Erfahrung muss wiederholt werden und vielleicht ist es an der Zeit nach diesem Exkurs wieder Erfahrungen mit Pheromonen zu sammeln, die Tinder nicht übertragen kann.

Ich bin wirklich gespannt auf eine Zukunft nach Tinder. Bis dahin werde ich wohl noch ein paar Abende während des Einschlafens gelangweilt auf total verpixelte oder gephotoshoppte Bilder von wildfremden Frauen starren und sie so lange mit Herzen und Kreuzen versehen, bis mich die Müdigkeit endgültig in das Land der realen Träume bringt.

Gute Nacht!

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